Während in Berlins Mitte die letzten Brachflächen zugebaut werden und den Luftschlössern eines neuen, aufgeräumten
Berlins Platz machen müssen, schrumpfen drum herum die Städte und lassen riesige urbane Brachflächen entstehen, werden
ganze Dörfer von der Außenwelt abgehängt oder verschwinden ganz von der Landkarte. Die Ideologie des permanenten
Wachstums weicht einer Kunst des Schrumpfens.
Im Zentrum des Abends steht der kleine Treck unerschrockener „Raumpioniere“, die der Stadt den Rücken kehren, um auf
dem Land ihre Projekte zu verwirklichen. Sie denken urban, sind global vernetzt - und bringen die Bio-Produkte mit dem Auto
aufs Land, weil es die dort nicht zu kaufen gibt. Die acht Performerinnen von leitundlause schlüpfen in unterschiedlichste
Rollen, preisen als Maklerinnen Wohnprojekte an, agieren als Experten für Stadtplanung und ländliche Entwicklung,
beschäftigen sich mit den Problemen der creatio ex nihilo, üben sich in Langeweile und Müßiggang, erfinden Projekte über
Projekte und begeben sich so auf die Suche nach dem Modell für ein neues Leben.
Die Musik setzt an der romantischen Naturauffassung, die schon immer eine Projektion der Städter war, an und spannt von
hier aus einen weiten Bogen, vom Pionierhaften in der Musik von Charles Ives und Morton Feldman über die musikalische
Rhetorik des Neuen, etwa in der ‚Sinfonie aus der Neuen Welt’ oder der Werbemusik der 60er Jahre, bis hin zur Musik
deutscher Westernfilme und neu arrangierter Songs.
Nach Geschichten aus dem Plänterwald und Referentinnen. Geschichten aus der zweiten Reihe bringen das Ensemble
leitundlause und die Neuköllner Oper das Schlussstück ihrer gemeinsamen Berlin-Trilogie heraus, das diesmal die
Entwicklung von Stadt und Land und das Leben nach dem Ende der Wachstumsgesellschaft unter die musiktheatrale Lupe
nimmt.
PRESSE:
Nichts ist alles - Bio to go: „Brachland“ in der Neuköllner Oper
Am Ende herrscht Kapitulation pur: „Ich hasse mich dafür, dass ich immer noch Appetit auf vietnamesisches Essen habe!“ Und das nach diesem so komödiantischen Selbstfindungsprozess für Großstädter, den das Ensemble Leitundlause in der Neuköllner Oper veranstaltet.
Die Geschichte von „Brachland“ ist schnell erzählt, auch weil Regisseur und Mitautor Matthias Rebstock sie nicht als Geschichte, sondern als Reihung unterschiedlicher Erkenntnisstadien inszeniert: sechs hippe Berlinerinnen, auf der Suche nach einem revolutionären Projekt, beschließen, der Stadt den Rücken zu kehren und die im Schatten der Metropole verödeten brandenburgischen Dörfer als antistädtischen Lebensentwurf zu vermarkten. „Entdecken Sie das Nichts“, „Etwas ist langweilig, Nichts ist alles“ lauten ihre Werbeslogans. Immer besessener reden die Ausgewanderten sich die Einöde schön, bis sie schließlich, wie im Schockzustand, die eingangs zitierte Erkenntnis überkommt. Die Stilisierung des Nichts, das war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Stadt, Land, Schluss.
Zwei Ebenen streift das Stück von Rebstock und Tilman Rammstedt: zum einen das Problem, dass junge qualifizierte Menschen den Osten verlassen, und zum anderen die Absurdität eines ökologischen Scheinbewusstseins, das Großstädter so gerne entwickeln. Beachtung verdient vor allem Letzteres, weil das Schauspielerinnen-Sextett so unverblümt selbstironisch agiert. Denn natürlich sitzen im Publikum all jene, die Bioprodukte kaufen, die zwischen ihrer Projektarbeit zum stylischen Vietnamesen gehen und die „,to go‘ bestellen, ohne zu wissen wohin sie damit gehen sollen“.
Daniel Wixforth - Tagesspiegel 28.8.2010
RBB radioeins, \"Theatercheck:
Eine Schrumpfoper über – nichts. Los geht’s ganz hektisch: Großstadtfrauen laufen aufgescheucht durcheinander. Sie haben genug von der Stadt als riesiger Job- und Single-Börse, von der Enge, in der jede Brache kulturell zwischengenutzt wird. Die Pionierinnen preisen das Nichts und die Lücke als sterbenden Rohstoff und ziehen aufs Land. Dann gibt es eine Vollbremsung. Die Naturromantikerinnen trinken zum ersten Mal Kaffee im Sitzen und müssen merken, dass sie wohl doch nicht so der Landtyp sind. In Brandenburg gibt es keine Biomöhren und keine Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor 80. Niemand gibt einem Spatzen ein Stück von seinem Croissant ab, und das mit der Selbstfindung geht auch schief.
Die Bühne
Ein paar alte Sessel, eine Baracke, ein öffentliches Telefon. Im Hintergrund: Wände aus altem Baumaterial. Fliesen, Waschbecken, Holztüren, von denen die Farbe blättert. Sperrholzkisten werden mal zur Badewanne, mal zum Landhaus umfunktioniert. Auf einer Leinwand Bilder von Unkraut im Wind und verfallenden Plattenbauten.
Die Schauspieler
Die sechs Performerinnen vom Ensemble „leitundlause schmeißen sich mit viel Komik in die Rollen der Großstädterinnen, die enthusiastisch wie Jungpioniere die Natur besingen – oder der Maklerinnen, die in Kauderwelsch-Sprache ein Rundum-Sorglos-Paket für Brachen versprechen. Dazu spielt ein Blastrio die Titelmelodie von „Winnetou“.
Das Publikum
Viel Stammpublikum aus dem Kiez. Studenten, Männer mit Dreitagebart und Frauen mit Nerd-Brillen. Die Zuschauer lachen ausgiebig, es gibt sogar Szenenapplaus, und am Ende wird getrampelt.
Die Länge
Knapp zwei Stunden ohne Pause und keine Sekunde davon langweilig.
Das Urteil
Unbedingt reingehen! Auch wenn „Brachland“ manchmal von allem zu viel ist wie amerikanische Eiscreme – diese Oper macht viel Spaß. Das liegt auch an den oft sehr witzigen Dialogen von Bachmann-Preisträger Tilman Rammstedt. Erstaunlich, dass Stadtplanung und ländliche Entwicklung so unterhaltsam sein können.
RBB radioeins, \"Theatercheck, 27.08.2010
Das Ensemble „leitundlause“ lädt mit dem Stück „Brachland. Geschichten vom Nichts“ zu einer amüsanten Landpartie
„Stern“? „Gala“? Nein, „Landlust“ heißt die meist gelesene Zeitschrift Deutschlands. Mehr als 700.000 Menschen wollen monatlich lesen, wie man Schmuckstücke aus Apfelkernen bastelt. Diese Sehnsucht nach einem einfachen Landleben bearbeitet auch das Ensemble „leitundlause“. Sein musiktheatralisches Stück „Brachland. Geschichten vom Nichts“ ist aktuell an der Neuköllner Oper zu sehen.
Zu Beginn erklingt der schmachtende Soundtrack der Winnetou-Filme. Sofort fühlt der Zuschauer die endlosen Weiten der Natur, weiß aber auch, dass die ferne nordamerikanische Prärie nur eine kroatische Steinlandschaft um die Ecke war. Dieser ironische Startschuss gibt den Ton der amüsanten Aufführung vor. Langsam entblättert das Ensemble (acht Frauen und ein Musiktrio) gut gepflegte Großstadtneurosen. Job, Partner und Frisur sind gefunden. Dennoch tun sich Brachstellen auf, die nicht sinnvoll zu füllen sind. So kehren sie der Stadt den Rücken, um ihre Sehnsüchte zu verwirklichen. Doch auf dem Land folgt Landkoller, so weit das Auge reicht: „Man bekommt hier kein Bio, nicht mal Regionales. Die Eier aus der Legebatterie gibt's zu Tankstellenpreisen. Für alles andere muss man 20 Minuten mit dem Auto fahren.“
Für den satirischen Text zeichnet auch Bachmann-Preisträger Tilman Rammstedt verantwortlich. Regisseur Matthias Rebstock hält seine Darstellerinnen zwei Stunden lang auf Trab, oft mit artistischem Körpereinsatz. Ihren Dialogen und Monologen zu folgen macht Spaß und die fein einstudierten Lieder, Arien und Chöre sind oft bewegend.
Peter Fuchs/Siegessäule 6.9.2010